WIR SIND NUNMAL KEINE SPECHTE
Schadet der Specht eigentlich dem Baum, auf den er so vehement einhackt?

Die meistgehörte Antwort auf diese Frage lautet wohl: „Wer will das wissen?“ Dringt man aber in etwas auskunftsfreudigere Kreise vor, lässt sich doch noch mehr zu dem Thema erfahren. „lass ihn das macht nichts der Vogel weiss was er tut“, lautet da etwa der kompetente Rat eines mutmaßlichen Fachmanns auf www.gutefrage.de. Nach einem Kontrollbesuch auf dem Natur-Wanderpfad und einer Kurzmitgliedschaft in der Facebook-Gruppe „Rechte für Spechte!“ kann tatsächlich Entwarnung gegeben werden (zumindest aus Sicht des Baumes): der Vogel weiß wirklich was er tut. Oder um es mal populärwissenschaftlich auszudrücken: Mutter Natur hat ihm die Lizenz zum Hacken in die Gehirnwindungen tätowiert. Um dabei die Gesundheitsvorschriften am Arbeitsplatz nicht zu verletzen, hat sie ihm außerdem eine Art Stoßdämpfer zwischen Schnabel und Gehirn spendiert. Ein nützliches Gimmick, das sich mancher Boxkämpfer herbeisehnen mag, kurz bevor es mal wieder eins auf den Zinken gibt. Wobei man im Hinblick auf manches Interview anmerken muss, dass mancher Profiboxer offenbar seinem Ideal (dem Specht) so nahe gekommen ist, dass er bereits eine nahezu perfekte Schnabel-Hirn-Entkopplung vorweisen kann.

Hätte Mutter Natur (vom Specht aus gesehen eigentlich eine Tante zweiten Grades) dem Specht den Stoßdämpfer verwehrt, die Welt wäre nicht die, in der wir heute leben. Die Wälder wären erfüllt vom markerschütternden Geschrei der Spechte, die sich pflichtbewusst das Gehirn raushämmern. Der Specht hätte es wohl als Inbegriff der tragischen Arbeiterfigur in die Werke der Weltliteratur geschafft. Die unausweichliche Sympathiewelle für den Specht hätte gewiss auch Einfluss auf die Entwicklung unserer Sprache genommen. Man würde wohl nicht mehr vom „Brummschädel“ sprechen, sondern vom „Spechtschädel“. Und folgender Satz wäre plötzlich so selbstverständlich wie die Erderwärmung: „Das spechtakuläre Federkleid des Pfaus weist ein bespechtliches Farbspechtrum auf.“ Merke: Wer möchte sich da noch am Pfau erfreuen (Glamour pur), wenn sich am Baum nebenan ein armer Specht um Kopf und Kragen knattert? Ich nicht.

Ganz anders als in diesem Horrorszenario macht sich der moderne Specht zum Glück nur durch ein sympathisches Klopfgeräusch bemerkbar. Trotzdem hat Mutter Natur den Menschen mit einer Gabe ausgestattet, die es ihn ohne weiteres ertragen ließe, wenn neben ihm alle fünf Minuten ein Specht explodieren würde: Verdrängung. Hier tut sich der Sachverhalt auf, der widerum den Menschen zur tragischen Figur der Weltliteratur macht: Wo wir auch hingucken, wir gucken immer weg. Schauen wir zum Specht, stürzt sich hinter uns gerade ein Yak vom Hochhaus. Schauen wir zum Yak, kommt plötzlich die FDP in die Regierung. Wenden wir uns der Politik zu, vergessen wir, wo im Supermarkt die Staubsaugerbeutel stehen. Und wenn wir nur noch ans Staubsaugen denken, dann werden wir nie die große Liebe finden.

Da ist er wieder: der Punkt, an dem ich mir wünsche, ein Specht zu sein. Dann wüsste ich, wo ich mit meinem Schnabel hin soll und würde nie wieder mit einem Brummschädel aufwachen.